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Gastbeitrag von Dr. Christine Thiel

Nach der Arbeit abschalten

„Entspann dich doch einfach mal“ – wer kennt diesen wohlgemeinten Ratschlag nicht, der sich oft mehr wie ein Schlag denn ein Rat anfühlt. Als wäre es so einfach. Stattdessen tigere ich rastlos umher, und wenn ich mich schon nicht entspannen kann, dann will ich wenigstens etwas Nützliches tun. 

Eine Checkbox abhaken: „Ich habe die Spülmaschine ausgeräumt und gesaugt. Die Papiere für das Auto erledigt, die Steuererklärung abgegeben. Und natürlich Sport gemacht.“

Und die Entspannung?

„Wenn das Projekt abgeschlossen ist. Dann nehme ich mir eine Auszeit.“
Wann wurde Entspannung zu einer Karotte, die immer 30 Zentimeter vor meinen Augen baumelt? Zu einem Gedanken, einer Hoffnung auf eine bessere Zukunft? Eine, die mich und alle, die ich liebe, des Zaubers des gegenwärtigen Augenblicks beraubt. Der Vögel, die vor dem Fenster zwitschern. Den letzten Sonnenstrahlen, die durch das Fenster brechen, bevor die Nacht hereinbricht. Dem Scherz meines Partners, den ich schon 100-mal gehört habe.

Dr. Christine Thiel

Doch da ist dieser Druck – der Drang, weiterzumachen, mehr zu tun, jetzt. Gedanken an das nächste Projekt, die Angst, dass es nicht rechtzeitig fertig wird. Oder dass es nicht gut genug ist. Es könnte immer etwas schief gehen. Nein, ich mache besser weiter, so kann ich sowieso nicht entspannen.

Und was bedeutet es überhaupt, abzuschalten und zu entspannen? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein? Die meisten Menschen würden antworten: Der Druck muss weg, die Gedanken müssen ruhig sein. Dann können wir uns entspannen. Mit dieser Definition also ungefähr drei Mal im Jahr.

Aber was, wenn wir in den Druck hinein entspannen könnten? Mit all den Gedanken, der Rastlosigkeit, der Getriebenheit – was, wenn wir gerade dann abschalten könnten?

Entspannung entsteht, wenn wir präsent sind. Das wollen wir oft nicht, weil uns nicht gefällt, was gerade ist. Aber, wie meine Meditationslehrerin immer wieder betont: „Present moment means present moment. Not pleasant moment.“ Es muss nicht immer ein angenehmer Moment sein. Es kann der Moment mit all den Gedanken und Gefühlen sein, die uns gerade durch den Kopf schießen.

Wir können abschalten, wenn wir aufhören, nach dem perfekten Moment zu suchen. Der perfekte Moment ist jetzt. Genau jetzt. Keine Sekunde später – das ist nur eine Illusion.

Wenn wir bereit sind, den Druck in unserer Magengegend zu spüren, während wir über den Scherz unseres Partners lachen. Wenn wir die Gedanken an die Arbeit wahrnehmen, während wir uns über die letzten Sonnenstrahlen freuen. Wenn wir uns erlauben, zu erleben und lebendig zu werden – in all dem Chaos, das es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Und vielleicht, nur vielleicht, wird dann der Moment der Entspannung nicht mehr in der Zukunft liegen. Vielleicht ist es einfach nur der nächste Schritt, den wir gerade tun. Vielleicht ist Entspannung nicht etwas, das wir erreichen, sondern etwas, das wir immer wieder neu entdecken – im Hier und Jetzt, mit all den Gedanken, die uns begleiten.

 

Christine Thiel 2025©